Wenn der Segler trockenfällt, hat das nichts mit seinem Biervorrat zu tun. Vielmehr ist ‚Trockenfallen‘ eine sehr bewusste Handlung im Wattenmeer und meint, dass sich der Skipper eine geeignete Stelle ausgesucht hat, den Anker fallen gelassen hat und nun wartet, dass ihm das ablaufende Wasser unter dem Kiel wegläuft. Bedeutet weiterhin, dass sein Schiff sacht und gezielt aufsetzt und es – sofern dieser Sonderfall konstruktiv vorgesehen war – stehen bleibt und der Segler sich die Veränderung der Welt rund um ihn herum genuss- und ehrfurchtsvoll anschaut. Bis die Badewanne ganz leer ist und sich wie von Geisterhand erneut zu füllen beginnt. Ein natürlicher Vorgang, der uns staunen lässt.
Da werden zweimal täglich Millionen von Kubikmetern Wasser weggesogen und wieder hergespült. Es enstehen Strömungen in den Gatten – den Öffnungen zur Nordsee zwischen den Inseln – von ohne weiteres 4-5 Knoten. Was dann, falls auch noch Gegenwind hinzu kommt, zu saugefährlichem und chaotischem Seegang führen kann. ‚Wind gegen Strom‘ nennt der Segler das und kriegt Pickel. Die Nordsee wird täglich durch die atlantische Gezeitenwelle durchspült, die nördlich um Schottland herum wieder die Kurve nach Süden kriegt. Und – naja – durch den Ärmelkanal schwappt auch noch was rein. Wieso, warum, woher kommt das?
Der Mond ist schuld. Und die Erde. Und ein bisschen auch die Sonne. Täglich laufen zwei Wellenberge rund um den Globus. Der eine Berg, verursacht durch die Anziehungskraft des Mondes genau über ihm, und der andere gegenüber auf der anderen Seite unserer Erdkugel, verursacht durch deren Rotation und die dadurch entstehende Fliehkraft. Ich lass es an dieser Stelle mal dabei und verweise lieber auf zwei besuchenswerte Seiten, die die gar nicht so komplizierten Zusammenhänge anschaulich erklären (ich hätte sowieso nur bei denen geklaut):
Geolinde und Gezeiten an der Nordseeküste
Wer es aber ganz genau und mit viel theoretischem Hintergrund wissen will, der schaue hier: wikipedia
Was für eine Naturgewalt, die alle 12 Stunden und 24 Minuten das niederländische, deutsche und dänische Wattenmeer – über 8.500 km² – mal eben trockenlegt und wieder flutet! Dabei hebt und senkt sich der Meeresspiegel um durchschnittlich rund 1,5 bis 3 Meter. Für den Westen (Holland) sind es eher die niedrigeren Werte, für den Osten (Deutschland und Dänemark) eher die höheren. Das ist aber noch harmlos. In der kanadischen Bay of Fundy wird der weltweit höchste Tidenhub mit 21 Metern gemessen, und an der englischen Küste sind es auch gern mal 8 Meter. Man stelle sich nur die dazugehörigen Strömungen vor! Übrigens ist die Flut flotter unterwegs als die Ebbe. Das auflaufende Wasser benötigt nur 85 % der Zeit, die das ablaufende braucht. Deshalb ist der Flutstrom auch stärker als der Ebbstrom. Zumindest gilt das für die südliche Nordseeküste. Ob wirklich nur dort und wenn ja warum nicht – keine Ahnung. Weiß jemand mehr?
Völlig zu Recht hat die UNESCO das Wattenmeer der südlichen Nordsee zum Weltnaturerbe erklärt. In dieser Ausdehnung von Holland über Deutschland bis nach Dänemark ist es weltweit einzigartig. Und schützenswert. Kürzlich habe ich irgendwo gelesen, wie viele Tierarten es global ausschließlich hier gibt und wie viele Lebensformen sich in einem Quadratmeter Schlick tummeln. Ich finde es nicht mehr wieder, es waren sehr erstaunliche Zahlen. Wer aber einmal mit dem Boot im Wattenmeer war, vielleicht trockengefallen ist und die Augen offen hatte, der braucht keine Zahlen mehr.
Das ist die eine Seite. Eine ganz andere Geschichte sind die navigatorischen Herausforderungen, die das Segeln im Gezeitenland mit sich bringt. Sich mit einem in der Regel tiefgehenden Segelschiff in diesem sich ständig änderndem Revier, zwischen Flachs und Fahrwassern, zwischen Seegatten und Prielen sicher zu bewegen, setzt Wissen, Respekt und Erfahrung voraus. Der Reiz liegt darin, die natürlichen Vorgänge für sich zu nutzen, mit dem Strom zu segeln, nicht gegen ihn. Na, zumindest dann nicht, wenn die Strömungsgeschwindigkeit am höchsten ist. Wenn es schon für eine kurze Strecke sein muss, dann eher zu den Zeiten kurz vor oder nach Hoch- oder Niedrigwasser, wenn die Strömung gering ist.
Die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit für ein Segelschiff in der, sagen wir, 10-Meter-Klasse wird üblicherweise und über den Daumen mit 5 Knoten kalkuliert (1 Knoten (kn) = 1 Seemeile pro Stunde = 1,852 km/h). Abhängig von den Windverhältnissen natürlich. Da wird schnell klar, dass selbst eine „normale“ Stromstärke von vielleicht 2 bis 3 Knoten Segen oder Fluch sein kann, je nachdem, ob ich Gegenstrom oder Schiebestrom habe. Entweder komm ich mit 2 kn kaum voran, oder der stolze Skipper steht mit breiter Brust am Ruder und genießt die 8 kn seiner frisch erblühten Rennziege. Oder – der GAU – ein seitlicher Strom versetzt ihn dorthin, wohin er gar nicht will. Zum Beispiel auf das nächste Flach. An dieser Stelle ein verschämter Gruß an Eugen, dem ich fast mal seinen Kat bei Querstrom zielsicher auf die nächste Fahrwassertonne gesetzt hätte.
Der Reiz ist aber auch ein mathematischer. Die Anwendung von Gezeitentabellen, die Errechnung der zu erwartenden Wassertiefe, die Kalkulation des vorgesehen Törns (wann bin ich wo und welche Strömungs- und Wasserstandsverhältnisse habe ich dort zu erwarten?) sind Herausforderungen für das schon zu Schülerzeiten verkannte Mathegenie. Neben dem dafür notwendigen Wissen ist eines dabei besonders wichtig: aktuelle Revierinformationen. Neueste Seekarten sind Pflicht.
Schließlich haben wir es beim Wattenmeer mit einem sich ständig verändernden Revier zu tun. Die periodischen Gezeiten sorgen für allmähliche, aber permanente Veränderungen der Unterwasser-Topografie. Genau wie manche Dünen oberhalb der Wasserlinie, wandern auch Sandbänke. Ja, ganze Inseln verschieben sich um ihre eigene Länge innerhalb sogar für uns Menschen erfassbarer Zeiträume. Veränderung ist der Normalzustand.
Ein faszinierendes Segelrevier!