Yachtmaster-Praxis. 10 Tage Southampton. Genauer: 7 Tage auf dem Solent an Englands Südküste plus 2 Tage Erholung plus An- und Abreise. Ich kann mich an keine Woche erinnern, die mich dermaßen mitgenommen und geschlaucht hat, wie diese. Bleiben wir also kurz bei den Herausforderungen. Als da sind:
5 mehr oder weniger erwachsene Menschen in einem relativ kleinen Boot, was bedeutet, dass auch der Salon belegt werden muss. Von Klaus und mir. Susan, die einzige Lady in der Aspirantencrew, hat ein Einsehen mit Klaus‘ und meinen „Längen über alles“ und bezieht bereitwillig mit dem ihr bislang völlig unbekannten Richard die Bugkabine. Keine Sorge, die Hellhörigkeit an Bord wirkt Trieb-neutralisierend … Außerdem sind wir total auf die Bewältigung der örtlichen Längen- und Breitengrade und nicht auf den eigenen Körperäquator konzentriert.
Schlafen. Die Sitzpolster an der Backbordseite, die meinen gestählten Körper nächtens abfedern sollen, sind mit diesem Job hoffnungslos überfordert. Ich schlafe quasi auf Holz. Klaus schnarcht steinerweichend, und fast jede Nacht sind wir bis in den nächsten Tag auf dem Solent unterwegs, um im Regen irgendwelche unbeleuchtete Tonnen mittels Transits bzw. Seiten- und Rückpeilungen zu finden. Ergebnis: Ich schlafe eine Woche lang besch…eiden.
Je länger die Woche wird, desto mehr steigert sich das weibliche Kommunikationsbedürfnis an Bord. Es wird gesabbelt was das Zeug hält. Ob einer zuhört oder nicht – völlig egal. Ermahnungen helfen nichts. Weghören auch nicht. Sie redet mit sich selbst, während Klaus, Richard und ich versuchen, uns zum letzten Mal vor der Prüfung die Lights and Shapes reinzubimsen. Richard hält sich verzweifelt die Ohren zu. Eine mentale Herausforderung. Zum Schluss eine Folter.
Die Prüfung. Gedamtdauer: 26 Stunden. Davon 4 bis 5 Stunden Schlaf. Um 2 Uhr morgens machen wir fest, um halb drei bin ich mit Kojebauen fertig, um drei fallen mir die Augen zu. Und um sieben bin ich wieder wach. Denn Klaus und ich müssen ja den Salon geräumt haben, bevor wir, wie angeordnet, um acht frühstücken.
Die Prüferin erweist sich am ersten Abend als sozial distanziert und unnahbar. Sie verschwindet nachts, nach dem Festmachen, gruß- und wortlos in ihrer Achterkabine. Kein freundliches Wort, keine Aufmunterung, nichts. Am nächsten Morgen taut sie nach und nach auf und wird deutlich freundlicher. Das hat aber den Nachteil, dass auch sie ihr Sabbelventil entdeckt und uns ebenfalls zutextet. Wir ertragen es mannhaft, jeder ist mal dran mit „listen to the examiner and be very interested“. Zum Schluss erweist sie sich als ausgesprochen fair und im Prüfungsergebnis großzügig.
Auf der Haben-Seite stehen für mich:
Das Revier. Der Solent zwischen der Isle of Wight und dem „Festland“ mit den Städten Portsmouth und Southampton ist einerseits landschaftlich reizvoll und andererseits ideal fürs Training. Hier kommt alles vor, viele dicke Pötte, alle Arten von Betonnung mit und ohne Beleuchtung, viel Verkehr, viele Sonderfahrzeuge mit verschiedensten Behinderungen oder Sonderrechten. Und vor allem Tide mit rund 4 m Tidenhub und Strömungen, die auch gern mal 3 oder sogar 5 Knoten erreichen können.
Karen, unsere Ausbilderin. Eine sehr nette, aber konsequente, schon etwas ältere Dame. Lächelt ständig, hat nautisch richtig was drauf und eine mütterliche Art, ihr Wissen weiterzugeben. Sympathsch.
Klaus und Richard. Für mich die beiden Rettungsinseln in der Crewbrandung. Klaus war es vorher schon, aber auch Richard wird mir zum Freund, und ich hoffe, dass die Verbindung erhalten bleibt. Zwar stammt er aus Mittelengland, lebt und arbeitet aber in Den Haag. Das ist nicht soooo weit. Wir drei sorgen für Stimmung und gute Laune an Bord und bauen uns in Stresssituationen gegenseitig auf.
Das Boot. Die Tomfoolery ist ein Arbeitsboot, fast 30 Jahre alt, wirkt abgenutzt und im Detail teilweise schmuddelig. Als ich zum Beispiel den Kartentisch aufklappe, quillt mir das wahre Chaos an Papierresten, alten Schmierzetteln, Bleistiftstummeln und zerbrochenen Radiergummis entgegen. Okay, damit kann man sich arrangieren. Im Laufe der Woche erweist sich unser Schiff dann aber als ausgesprochen verlässlich und seefest, mit angenehmem Verhalten in der Welle und gutem Gefühl am Rad für die Windkante. Nur die Elektrik spinnt an einigen Stellen.
Traditional skills. Hochinteressant war die Rückbesinnung auf Non-GPS Fähigkeiten. Den Standort mit ein paar Peilungen auf Seekarten-bekannte Objekte zu bestimmen und gegebenenfalls noch die Tiefenlinie unter Berücksichtigung der aktuellen Höhe der Gezeit zu Hilfe zu nehmen – und zwar konsequent tagelang als Routineverfahren und nicht nur mal so zum einmaligen Demonstrieren -, das hatte was. Das bringt Sicherheit und das Gefühl der Unabhängigkeit von Technik. Was passt besser zur Philosophie des Segelns?!
Das erstaunliche Verhältnis von Theorie und Praxis. Nichts, aber auch absolut gar nichts von dem, was wir in und für Düsseldorf an Theorie gepaukt hatten, erwies sich als überflüssig. In der Praxis auf dem Solent wurde alles irgendwann und irgendwie angewendet. Man muss offensichtlich 60 Jahre alt werden und gen Engeland ziehen, um sowas zu erleben.
Nachdem so also die Ausbildungtage an Bord überstanden sind, verabschiedet sich Karen am Freitagnachmittag mit Einzelgesprächen und einer Einschätzung, ob sie den Kandidaten als Coastal oder gar als Offshore Yachtmaster sieht. Ich weiß es und sie sagt es mir: meine Fehlerquote hat sich in den letzten Tagen erhöht und sie ist sich nicht sicher, was sie mir empfehlen soll. Ich nehme es ihr ab und entscheide mich für den Coastal. Meine Belastungsgrenze ist erreicht, ich bin dauerhaft müde und möchte lieber mit einem Erfolg auf niedrigerem Niveau nach Hause kommen, als mit einer versiebten Prüfung auf höherem. Die Ausbildung selbst war ja die gleiche, und auf die kommt es mir an.
Freitagabend bezieht dann die Prüferin ihre Einzelkabine achtern – und benimmt sich soziologisch erstmal daneben. Siehe oben. Am nächsten Nachmittag, zum Ende der Prüfungen, bittet sie mich für ein Gespräch runter in den Salon. Mir stehen sämtliche Fragezeichen im Gesicht, und meine Kinnlade gibt der Schwerkraft nach, als sie mir anbietet, meine Entscheidung zu korrigieren und mich doch noch zum Yachtmaster Offshore „upzugraden“. Es sei das erste Mal, dass sie sowas mache. Es ist aber nicht das erste Mal in diesen Tagen, dass ich mich kneife um meinen aktuellen Bewusstseinszustand zu überprüfen. Ich bin einigermaßen wach, an meinem Englisch liegt es auch nicht … ich habe sie tatsächlich richtig verstanden. Die Lady kann sogar freundlich schauen und meint es ernst. Ich erlebe mental einen geradezu orgastischen Höhepunkt (aber NUR mental!) und freue mich.
Am sehr späten Samstagabend, zurück in Southampton, gehen vier frisch gebackene Yachtmaster (1 Coastal, 3 Offshore) Pizza essen und Biere trinken …
Am Sonntag im Hotel schlafe ich mit mir selbst um die Wette. Ich gewinne. Montag gibt es für Klaus und mich noch einen day off mit Besuchen in Lymington und einem letzten Solent crossing (by ferry) nach Cowes auf die Isle of Wight. Dienstagabend sind wir wieder in Lingen, werden von Sigrid mit „Sirs“ angeredet und zum leckeren Abendessen gebeten. Ach ja, und dann sind da noch 3 Flaschen Weißherbst im Kühlschrank …
Beide – Weißherbst und das mit dem „Sir“ – haben übrigens sehr ähnliche Halbwertzeiten.
Nachtrag: wer an der Sichtweise von Klaus und an weiteren Fotos interessiert ist, kann hier nachlesen: RYA, my point of view (keine Angst, in Deutsch)
Tolle Zusammenfassung, I agree with you. 🙂
Gruß Klaus
Da gratuliere ich, Sir! Well done!
Chapeau!
Congratulations,Sir!
Danke für deinen Bericht.
René